Schiffbruch mit Tiger by Yann Martel

Schiffbruch mit Tiger by Yann Martel

Autor:Yann Martel
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Tags: Roman
ISBN: 978-3-10-401032-8
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2011-11-20T16:00:00+00:00


Kapitel 55

Es wurde Tag, und alles war nur noch trostloser dadurch. Denn nun tauchte aus dem Dunkel das auf, was ich zuvor nur gespürt hatte, die gewaltigen Regenkaskaden, die aus größter Höhe auf mich herabstürzten, und die Wellen, die eine nach der anderen über mich herzogen und mich hinunter in die See stießen, als sei nichts dabei.

Mit trüben Augen, halb erfroren, am ganzen Leibe zitternd, in der einen Hand den Regensammler, mit der anderen an das Floß geklammert, saß ich da und wartete.

Einige Zeit später, und mit einer Plötzlichkeit, die die Stille umso unheimlicher wirken ließ, hörte der Regen auf. Der Himmel klärte sich, und es war, als zögen die Wellen mit den Wolken davon. Der Wechsel war so abrupt und radikal, wie man ihn an Land manchmal erlebt, wenn man über eine Grenze fährt. Ich war in einen anderen Ozean gekommen. Bald prangte nur noch die Sonne am Himmel, und das Wasser war wie eine glatte Haut, die das Licht in Millionen von Spiegeln zurückwarf.

Ich war steif, erschöpft, jeder Knochen tat mir weh, es blieb nichts als eine dumpfe Dankbarkeit, dass ich noch am Leben war. Die Worte »Plan sechs, Plan sechs« drehten sich in meinem Kopf wie ein Mantra und brachten mir ein gewisses Maß an Trost, obwohl ich mich, so sehr ich mich auch mühte, nicht mehr entsinnen konnte, was Plan sechs gewesen war. Allmählich wurden meine Knochen wieder warm. Ich klappte den Regensammler zu. Ich wickelte mich in die Decke und rollte mich so zusammen, dass kein Teil von mir das Wasser berührte. Ich schlief ein. Ich weiß nicht, wie lange ich schlief. Es war Vormittag, als ich erwachte. Es war heiß. Die Decke war fast wieder trocken. Ein kurzer, tiefer Schlaf. Ich stützte mich mit dem Ellbogen auf.

Alles um mich war flach bis zum Horizont, ein einziges weites Panorama in Blau. Nichts versperrte mir die Sicht. Die Unendlichkeit war wie ein Schlag in den Magen. Ich ließ mich auf den Rücken fallen, rang nach Atem. Dieses Floß war ein Witz. Es war nichts weiter als ein paar Stöcke und ein paar Stücke Kork, mit Seilen zusammengebunden. Durch jede Ritze kam das Wasser. Von der Tiefe darunter wäre selbst einem Vogel schwindlig geworden. Ich sah hinüber zum Rettungsboot. Nichts weiter als eine halbe Walnussschale. Es hielt sich auf der Wasseroberfläche wie Finger, die sich an die Kante einer Klippe klammern. Nur eine Frage der Zeit, bis die Schwerkraft es nach unten zog.

Der zweite Schiffbrüchige kam in Sicht. Er stemmte sich auf den Bootsrand und blickte zu mir herüber. Ein unvermittelt auftauchender Tiger ist in jeder Umgebung ein atemberaubender Anblick, aber hier war es umso überwältigender. Der Kontrast zwischen dem leuchtenden, lebendigen, schwarz gestreiften Orange seines Fells und dem leblosen Weiß des Bootes hätte größer nicht sein können. Mit einem Knirschen kam das Karussell in meinem Kopf zum Stillstand. So unendlich der Pazifik, der uns umgab, auch sein mochte—was zwischen uns lag, das erkannte ich nun, war nicht mehr als ein winzig schmaler Burggraben, ohne Mauer, ohne Barriere.



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